Außensicht auf Deutschland mit seinen Umbrüchen und Aufbrüchen: Interview mit dem irakischen Professor und Politiker Abid Al Ajeeli

beim Rheinspaziergang mit Birgitt Smelty

Prof. Dr. Abid Al Ajeeli, Leiter des Arabischen Rates für Strategie, Wirtschaft und Entwicklungsstudien, hat in seiner 40-jährigen beruflichen Laufbahn als irakischer Professor für Informatik und Politiker für Hochschulbildung und wissenschaftliche Forschung Deutschland vielfach besucht. Anlässlich des 35. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung sprachen wir mit ihm über seine Sicht auf Deutschland mit seinen Umbrüchen und Transformationen.

Prof. Dr. Al Ajeeli und Birgitt Smelty am Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Koblenz, Deutschland
Prof. Dr. Al Ajeeli im historischen Wirtshaus „Leyscher Hof“ in Leutesdorf, Deutschland

Herr Prof. Dr. Al Ajeeli, Sie kommen aus dem Irak, einem Land, das von zahlreichen Umbrüchen geprägt ist und sich im komplexen Wandel befindet. Was verbinden Sie mit dem gewaltigen Umbruch der Wiedervereinigung Deutschlands?

Ich erinnere mich noch gut daran, als am 9. November 1989 die Bürger der ehemaligen DDR selbst mit dem Fall der Berliner Mauer den Anfang eines neuen Weges für Deutschland ermöglichten. Es war ein historischer Moment, freudig, friedlich und voller Hoffnung. Diese Nachricht löste nicht nur bei mir, sondern in nahezu allen Regionen der Welt Anteilnahme aus. Als am 3. Oktober 1990 der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterzeichnet wurde, konnte niemand vorhersagen, was die Wiedervereinigung zweier Gesellschaften und Staaten mit sehr unterschiedlichen Systemen für die deutschen Bürger im Osten und Westen bedeuten würde. Aber man vertraute: Deutschland würde auch diesen Umbruch bewältigen, egal wie schwer der Kraftakt auch sein mag. Große Transformationen brauchen Zeit – meist mehr, als man zunächst denkt.

„Transformationen brauchen Zeit – meist mehr, als man zunächst denkt.“

Sie haben 2001 Ihre Heimat verlassen müssen. Wie war die Situation für Sie? Und wie sehen Sie den Verlust des Staates für die ostdeutsche Bevölkerung?

Es war nicht leicht für mich, als ich 2001 meine Heimatstadt Bagdad, meine Familie und meine Freunde verlassen musste. Aber ich sollte in Katar eine zweite Heimat, neue berufliche Perspektiven und neue Freunde finden. Solche Erfahrungen lehren einen, dass Verlust und Neuanfang zwei Seiten derselben Medaille sind. Ich vermute, dass das Ereignis für die Bürger der ehemaligen DDR sehr herausfordernd war. Sie haben ihr Land, ihr Arbeitsumfeld und ihren sozialen Rahmen verloren. Sie mussten sich völlig neu orientieren und erhielten in der Bundesrepublik eine völlig neue Identität. Große Umbrüche erfordern Willenskraft und Ausdauer. Aber mit der gemeinsamen Vision „Zusammen – füreinander. Nie wieder gegeneinander“ hat sich die deutsche Bevölkerung konsequent auf den Weg in eine einige Zukunft gemacht. Das zeigt: Wer bereit ist, Altes loszulassen, kann Neues gewinnen.

Wer bereit ist, Altes loszulassen, kann Neues gewinnen.

Ihr Heimatland ist eine parlamentarische Republik mit einer jungen Bevölkerung und vielen Religionen. In Deutschland haben heute 30 % der Menschen einen Migrationshintergrund. Dies führt vielfach zu Missverständnissen und Spannungen. Welche Haltung empfehlen Sie den in Deutschland lebenden Menschen dazu?

Wie sagt man in Deutschland? „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ Ich lebe selbst in einer Region mit einer langanhaltend komplexen und hohen Konfliktdynamik. Es ist nicht einfach, aber möglich. Voraussetzung: Jeder Mensch verdient Respekt, unabhängig von seiner Herkunft. In Deutschland altert und schrumpft die Gesellschaft. Damit das System weiter funktioniert, bedarf es zusätzliche Menschen aus dem Ausland. Ich persönlich sehe eher die Vorteile in einer vielfältigen Gesellschaft. Sie eröffnet erweiterte Perspektiven, steigert die Innovationskraft und ermöglicht gemeinsames Handeln, um neue Lösungsansätze zu finden. Die Haltung – das Verbindende zu suchen, statt das Trennende zu betonen – ist meiner Meinung nach der richtige Ansatz.
Nach dem, wie ich die Menschen in Deutschland kennengelernt habe, werden sie mit ihrer realistischen, pragmatischen Mentalität auch diese Situation meistern.

„Verbindendes suchen, statt Trennendes zu betonen.“

Die junge Generation in Deutschland ist angesichts des Klimawandels und vieler weltweiter Krisen und Katastrophen mit viel Ungewissheit konfrontiert. Dennoch müssen sie sich eine Zukunft aufbauen. Sie kennen dieses Gefühl, weil Sie persönlich Kriege und Verluste bewältigen mussten. Was empfehlen Sie der jungen Generation?

Wir befinden uns mitten im globalen Umbruch, ausgelöst durch Klimawandel, kulturelle Konflikte, ökonomische Krisen und technologische Entwicklungen. Weltweit sehen sich die Menschen mit einer Vielzahl von Krisen konfrontiert, die individuelle Auswirkungen haben. Gleichzeitig müssen besonders junge Menschen noch ihr eigenes Leben aufbauen. Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut und musste schon sehr früh lernen, neue Realitäten zu akzeptieren, Altes loszulassen und mir ein neues Leben zu schaffen. Was mir dabei geholfen hat? Meine positive Sichtweise, mein Glaube an mich selbst und meine Bereitschaft zum Lernen. Diese innere Haltung gibt die Kraft, auch schwierige Lebenslagen zu meistern und kann für die junge Generation ein Kraftquell sein. Umso mehr freue ich mich, dass mein langjähriger deutscher Freund Claus Raemer mir die Gelegenheit gegeben hat, mit jungen Menschen vom Technologiepark „Rasselstein Quartier“ in Neuwied zu sprechen. Sie freuen sich über eine Kooperation in zukunftsweisenden Bildungs-, Forschungs- und Arbeitsprogrammen mit der jungen Generation aus meiner Region.

Was hat Ihnen am meisten geholfen, mit einer unsicheren Lebenssituation umzugehen? Wie bekommen wir die Transformation hin?

Bildung, Wissen und kontinuierliches Lernen sind für jeden Menschen und jede Gesellschaft der Motor für Transformation, Fortschritt und Innovation. Das ist keine abstrakte Theorie – ich habe es selbst erlebt. Die Bereitschaft, nie aufzuhören zu lernen, sich anzupassen und Neues zu integrieren, hat mir durch alle Krisen geholfen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir gemeinsam über Grenzen hinweg effizienter daran arbeiten können, eine bessere Zukunft zu gestalten, die die Umwelt schützt, soziale Stabilität gewährleistet und Wohlstand gerechter verteilt. Deutschland hat ein langjähriges Ausbildungs- und Weiterbildungssystem, das bis ins Jahr 1818 zurückreicht und mit einer dualen Berufsausbildung begann, die Praxis und Theorie miteinander verbindet. Diese Tradition der Bildung ist ein großer Schatz, den es zu bewahren und weiterzuentwickeln gilt – gerade in Zeiten des Wandels.

Herr Prof. Dr. Al Ajeeli, was wünschen Sie der jungen Generation in Deutschland und im Irak für ihre gemeinsame Zukunft?

Ich wünsche den jungen Menschen in beiden Ländern vor allem eines: die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Die deutsche Jugend kann von der Resilienz und Anpassungsfähigkeit junger Iraker lernen, die trotz aller Widrigkeiten nicht aufgeben. Und die irakische Jugend kann von Deutschlands strukturiertem Bildungssystem und seiner Innovationskraft profitieren. Beide Generationen teilen ähnliche Herausforderungen – Klimawandel, wirtschaftliche Unsicherheit, die Suche nach ihrer neuen Rolle in einer globalisierten Welt. Wenn sie gemeinsam an Lösungen arbeiten, über kulturelle Grenzen hinweg Freundschaften schließen und ihre unterschiedlichen Erfahrungen bündeln, dann können sie eine Zukunft gestalten, die für beide Gesellschaften Wohlstand, Frieden und Perspektiven schafft. Die Kooperation im Rasselstein Quartier ist ein hoffnungsvoller Anfang – möge sie Früchte tragen und viele weitere Brücken nach sich ziehen.

Herr Prof. Dr. Al Ajeeli, wir danken Ihnen herzlich für dieses inspirierende Gespräch und Ihre verbindenden Worte.

Besuch von Prof. Dr. Al Ajeeli in Neuwied beim Oberbürgermeister Jan Einig.
     Von links nach rechts: Birgitt Smelty, Christian Scheidgen, Prof. Dr. Abid Al-Ajeeli,
     Jan-Einig, Claus Raemer, Fred Häring und Martin Hahn

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